Faurakismus

EXPERTISE

Die Poesie des Unterbewussten in der Kunst von Kerstin Irene Menzer-Reich (KIMR)

Anastassia Biederstaedt, M.A.

In ihrem Gedicht „Farbenrausch“ bringt Kerstin Irene Menzer-Reich (KIMR) ihre Perspektive auf den schöpferischen Prozess zum Ausdruck. Die in der DDR geborene und aufgewachsene Autodidaktin erarbeitete in einem Zeitraum von etwa 10 Jahren einen eigenen künstlerischen Zugang, den sie als „Faurakismus“ bezeichnet. Der Begriff „Faurakismus“ setzt sich aus den Initialen der Künstlerin und ihrer Wortschöpfung „Faura“ zusammen und bezeichnet eine Vorgehensweise, welche Seidenmalerei und Zufallsprinzip zu einem dynamischen Ganzen verknüpft. Laut Menzer-Reich bringen „die Wahl und die Entstehung der Formen Verborgenes in unsere Welt und können diese sichtbar machen“. „Faura“ verbindet hierbei die Begriffe „Farbe“, „Aura“ und „Rausch“: die durch Licht hervorgerufenen Sinneseindrücke werden zu einem ekstatischen Zustand, welcher die Aura, Göttin der Morgenbrise, in all ihrer Leichtigkeit als Mittlerin zwischen dem Irdischen und dem Göttlichen nutzt. Der Faurakimer-Stil, der ebenfalls die Initialen der Künstlerin beinhaltet, ist schließlich die Art und Weise, welche Menzer-Reich nutzt, um die mittels Faurakismus entstandenen Bilder wirkungsvoller darzustellen. In den derzeitigen Werken werden vorwiegend Ölfarben auf Leinwand verwendet, wobei eine aufwändige Lasurtechnik zum Einsatz kommt, um die weichen, fließenden Übergänge der Seide möglichst eindrucksgetreu darzustellen. Menzer-Reich legt einen besonderen Wert auf die Darstellung der Motive in ihrer Ursprünglichkeit.

In der Kunstwissenschaft kommt dem Begriff „Aura“, welcher in dieser Disziplin von Walter Benjamin eingeführt wurde, eine entscheidende Rolle „in der Diskussion um das Originalkunstwerk und seine heutige technische Reproduzierbarkeit“ zu (Broer et al. Bd. 5 1997:317). So unterscheide die unnachahmliche Aura „das Original von jeder technisch noch so perfekten Reproduktion“ (ibid.) Die farbigen Seidenformationen von Menzer-Reich besitzen eine solche Aura und auch ihre im Faurakimer-Stil entstandenen Werke sind keine bloßen Reproduktionen. Auch sie sind durch die individuelle Wahl des Ausschnitts und das Übertragen der dreidimensionalen Seidenformationen auf die zweidimensionale Fläche der Leinwand vollwertige Originale mit eigener Strahlkraft.

Dem Faurakismus liegt Menzer-Reichs Gabe zugrunde, in Strukturen des Alltäglichen wie Steinformationen, Bäumen, Blumen oder zerknülltem Papier durch den Einsatz der Vorstellungskraft, des zutiefst Unterbewussten, Motive zu erspüren. Diese Gabe der Vorstellungskraft wurde nicht zuletzt durch Menzer-Reichs Kindheit, die durch zahlreiche Opernbesuche, Konzerte, Ballett- und Theateraufführungen, die sie als Teil des Publikums intensiv erlebte, gefördert. Ein prägendes Erlebnis war hierbei der Besuch der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden, wo sie noch vor ihrem 5. Geburtstag Raffaels „Sixtinische Madonna“ sah: „Dieses Bild, dieses Gefühl, diese Wärme, Ausstrahlung und Schönheit hat mich mein ganzes Leben begleitet und geprägt“. Später, als Menzer-Reich die Volljährigkeit erreichte, hatten ihr ihre Eltern eine Flugreise nach Sankt Petersburg, das kulturelle Zentrum Russlands, ermöglicht. Die Flut der Eindrücke beim Besuch zahlreicher Sehenswürdigkeiten, darunter die umfangreiche Sammlung der Eremitage, empfand Menzer-Reich als eine besondere und überwältigende Erfahrung.

Menzer-Reich befasste sich zudem mit dem französischen Impressionismus, von dessen Vertretern Claude Monet und Edgar Degas und deren Umgang mit Farbe sie fasziniert und erstaunt war. Es sei das Spiel aus Farbflächen, die bei zunehmendem Abstand wie in einem Traum oder einem Märchen sich zu einem neuen Ganzen zusammenfügten, das Menzer-Reich inspirierte. Dieses Farbenspiel ist auch ihren Bildern zu eigen, denn bei längerem Betrachten und Verändern des Blickwinkels lassen sich immer neue Formen und Gestalten erkennen. Doch es gibt noch eine weitere Gemeinsamkeit mit Degas: die spezielle Beziehung zwischen Stoff und Bewegung. So sagte Degas, dass die Tänzerin für ihn nur ein Vorwand sei, schöne Stoffe zu malen und Bewegungen wiederzugeben (Broer et al. Bd. 4 1997:204). Es war also das Wirken von Licht auf einem schillernden Stoff, welches Degas zum Festhalten flüchtiger Bewegungen eines Tanzes anregte. Auch Menzer-Reichs Faurakismus stellt den Seidenstoff in den Mittelpunkt des kreativen Prozesses: die Hand der Künstlerin verleiht der Seide Bewegung und Farbe und hält die entstehenden Formen in Bildern fest.

Während die Grundeigenschaft des Impressionismus als „eine Kunst […], die den Eindruck eines Augenblicks festzuhalten versucht“ (Broer et al. Bd. 5 1997:9) sich in Menzer-Reichs Schaffen wiederfindet, so kommt auch eine expressionistische Komponente hinzu. Broer et al. bezeichnen den Expressionismus (von lat. expressio Ausdruck) als „Kunst des Ausdrucks,“ die von einem „Bruch […] mit der Vergangenheit“ und einem „Wille[n] zum ganz Anderen gegenüber allem Vorhergehenden“ gekennzeichnet wird (Broer et al. Bd. 5 1997:9). „Dem Künstler—dem Maler, dem Dichter wie auch dem Musiker – kommt es in erster Linie auf den Ausdruck, die Expression an“ (Deuchler 1975: 145). Entsprechend ist für Menzer-Reich die Malerei der durch Faurakismus entstandenen Motive kein reines, impressionistisches Wiedergeben eines Eindrucks von Farbe und Licht. Vielmehr werden Gedanken und Gefühle, Erinnerungen und Tagträume durch das Farbenspiel zum Ausdruck gebracht.

Eindruck und Ausdruck, Realität und abstrakte Tendenzen werden im Faurakismus vereint, wenn dieser Werke im „Faurakimer-Stil“ hervorbringt, denn die Flüchtigkeit der bemalten und reliefartig angeordneten Seide wird durch Fotografie zu einer stofflichen, gegenständlichen Realität, obwohl ihre Anordnung spontan und ohne ein gegenständliches Vorbild geschieht. Was zunächst paradox anmutet, kann als Antwort auf die Feststellung des deutschen Expressionisten und führenden Maler der „Brücke“, Ernst Ludwig Kirchner, verstanden werden. Kirchner schrieb in einem Brief vom 11. September 1931, dass er glaube, dass viele Sehgesetze noch nicht in den Dienst der Kunst gestellt seien, da sie noch gar nicht bewusst empfunden worden seien (Broer et al. Bd. 5 1997:17). Laut Kirchner sei die abstrakte Kunst eine Selbsttäuschung, da jede Kunst abstrakt sei, da ihre Sprache aus der Realität stamme und auch die kühnste Fantasie mit irgendwo, irgendwie, irgendwann einmal gesehenen Formen arbeite (ibid.). Da Faurakismus die Technik der Seidenmalerei auf eine neue, unerwartete Weise einsetzt, stellt er so ein neues Sehgesetz ganz im Sinne Kirchners in den Dienst der Kunst.

Indem er als ein Sehgesetz fungiert, stellt Faurakismus einen Ansatz für das Sichtbarmachen einer inneren Welt dar, welcher an Kandinskys Vorgehensweise erinnert. Kandinsky entwarf „eine Art Grammatik von Formen und Farben […], die die innere Welt des Künstlers zum Ausdruck bringen sollte“, wobei „ihm die Musik ein Vorbild [war], die in ihren Kompositionen einen ungegenständlichen Kanon zur Darstellung der verschiedensten Gefühle und Vorstellungen besaß“ (Broer et al. Bd. 5 1997:86). Ebenso intuitiv wie das Improvisieren in Tönen gestaltet sich das Spiel zwischen Farbe und Seide. Dieses Intuitive und Flüchtige berührt die Betrachtenden auf einer emotionalen Ebene. Menzer-Reich betont, dass es ihr um die individuelle Wahrnehmung gehe und ihre Werke einen anregenden Impuls bilden, sich der eigenen Vorstellungskraft zu öffnen. Die Betrachtenden werden aufgefordert, sich aktiv mit dem Sehen und Empfinden des Werkes zu befassen, statt es sich von der Künstlerin als passive Zuhörende erklären zu lassen. Die Ambiguität der dargestellten Formen in ihrer Wahrnehmung entzieht sich einer vollständigen Deutung, da sich das Dargestellte durch den Vorgang des Betrachtens stetig in seinem Sinn wandelt. Es ist durch und durch mehrdeutig.

Die Leichtigkeit der Bilder, welche durch das Fließen der Seide und die Wahl der Farben zustande kommt, steht in einem starken Kontrast zu Menzer-Reichs Wahrnehmung des Malens. Dieses sei nicht immer leicht und von einem Zwiespalt aus Hoffnung und Versagensängsten begleitet. Die intensive Auseinandersetzung mit Farbe und Leinwand wird oftmals als ein ungerader Weg mit Hindernissen empfunden, während eben diese Auseinandersetzung auch einen therapeutischen Charakter hat. Menzer-Reich bezeichnet das Malen als ihre Kunsttherapie, womit sie eine Gemeinsamkeit mit der französischen Künstlerin des Nouveau Realismé, Niki de Saint Phalle, aufweist. Für Niki de Saint Phalle war Kunst eine Therapie, die ihr „durch Übersetzung meiner Gefühle, Ängste, Gewalt, Hoffnungen und Freude in meine Arbeit“ beim Heilungsprozess half (de Saint Phalle in Broer et al. Bd. 5 1997:263).

Während das Malen im Faurakimer-Stil durchaus beschwerlich sein kann, betont Menzer-Reich, dass für sie die intuitive Spontanität des Faurakismus-Vorgangs im Vordergrund steht. Wird beim Faurakimer-Stil auf möglichst originalgetreue Wiedergabe des Motivs geachtet, so wird das dem Faurakismus entspringende, zugrunde liegende Motiv durch eine kompositorische Freiheit charakterisiert. Vorgeschriebene Kompositionsregeln spielen kaum eine Rolle wie es auch in der Informellen Kunst (kurz: Informel) der Fall ist. Diese Kunstrichtung ist durch „die Ablehnung fester Kompositionsregeln“ gekennzeichnet (Broer et al. Bd. 5 1997:199). Laut K. Thomas geschieht dies im Informel, „um durch die spontane Rhythmik von Farbflecken und Linien geistige Impulse unmittelbar auszudrücken“ (in ibid.). Die Unmittelbarkeit kommt im Faurakismus durch stimmungsbedingte Farb- und Formenwahl. Das im Hier und Jetzt Empfundene, ob bewusst oder nicht, entscheidet über den sprichwörtlichen Verlauf – sowohl des Stoffes als auch der Farbe.

Darüber hinaus lässt sich durch die Nutzung des Zufallsprinzips und die starke Betonung des Unterbewussten eine konzeptionelle Nähe zum Surrealismus feststellen. Deuchler beschreibt den surrealistischen Künstler als Medium der Schöpfungskraft, welche in ihm wirkt (Deuchler 1975: 163). Um „[d]ieses Verborgene [das Unterbewusste] in seiner ganzen Fülle […] in dem Bereich des Vorstellungsvermögens an[zu]siedeln und für die bildende Kunst darstellbar [zu] machen“ gibt sich der „surrealistische Künstler oder Dichter […] den Visionen hin, die ihm aus dem Unterbewusstsein zuströmen […] Der Zufall wird als schöpferischer Faktor ins Spiel gebracht“ (ibid.). So lässt sich die Seide zwar mehr oder weniger bewusst falten, doch bleibt sie in ihrer Materialität nie völlig unter Kontrolle und auch der Fluss der Farbe unterliegt – zumindest teilweise – dem Prinzip des Zufälligen, des Flüchtigen, wie ein aus den geistigen Tiefen aufsteigender Tagtraum, den man zwar formen und leiten, aber nie komplett kontrollieren kann. Darin begründet sich die Poesie des Unterbewussten, die Menzer-Reich auszuloten weiß.

Quellen: 

Broer, Werner und Walter Etschmann, Robert Hahne, Volker Tlusty. Kammerlohr Epochen der Kunst Band 4: 19. Jahrhundert –
Vom Klassizismus zu den Wegbereitern der Moderne. 2. Auflage. Mühnchen: Oldenbourg, 1997.  

Broer, Werner und Walter Etschmann, Robert Hahne, Volker Tlusty. Kammerlohr Epochen der Kunst Band 5: 20. Jahrhundert –
Vom Expressionismus zur Postmoderne. 2. Auflage. Mühnchen: Oldenbourg, 1997. 

Deuchler, Florens. Geschichte der Malerei – Von den Anfängen bis zur Moderne. 3. Auflage. Herrsching Ammersee: Pawlak Verlag, 1975. 

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